Christian Rauch begründete Pfalzenforschung in Ingelheim

Als am Morgen des 1. Oktober 1909 eine Gruppe von Männern mit Spaten und Haken in den Händen durch die Altstadt zog, staunten die Nieder-Ingelheimer Bürger nicht schlecht. Mit fachmännischem Blick durchschritten sie die engen Gassen, verweilten kurz an dieser Mauer, kurz an jener. Am Westflügel der ehemaligen Kaiserpfalz-Anlage, an der Stelle, an der einst die Aula regia stand und sich die Rundung der Apsis im Mauerwerk abzeichnet, begannen sie schließlich zu graben und im Boden Mauerwerk freizulegen.
Der Architekt und Kunsthistoriker Prof. Dr. Christian Rauch war in Ingelheim angekommen. Beauftragt, die Kaiserpfalz archäologisch zu erforschen. Sieben Monate, aufgeteilt in fünf Grabungskampagnen, widmete er sich in den kommenden Jahren den archäologischen Grabungen. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs im August 1914 setzte den Untersuchungen leider ein vorläufiges Ende, aber Christian Rauch sollte sein ganzes Leben lang der Kaiserpfalz und der Stadt Ingelheim verbunden bleiben.
In seinen Grabungskampagnen stand Christian Rauch ein gut geschulter Mitarbeiterstab zur Verfügung. So führte in den I. und II. Grabungsphase der Großherzogliche Regierungsbaumeister Hans Hieronymi die Vermessungen durch, später übernahmen der Großherzogliche Regierungsbaumeister Haas und Franz Krause, Architekt der Rheinischen Denkmalpflege, diese Arbeit. Mit der fotografischen Dokumentation wurde der Ingelheimer Berufsfotograf Wilhelm Huf beauftragt. Er hielt die Ausgrabungen in mehreren hundert Aufnahmen fest. Zur Beurteilung der Grabungsfunde konnte Christian Rauch auf eine große Zahl von Fachgelehrten zurückgreifen, unter ihnen auch die Kunsthistoriker Dr. Konrad Plath und Prof. Paul Clemen. Letzterer ließ übrigens schon um 1890 mit seinen Studien über die Ingelheimer Kaiserpfalz die Fachwelt aufhorchen. Paul Clemen erkannte als einer der Ersten die Bedeutung der Pfalzen! Zwar verwendete Paul Clemen für seine Sondierungen im Boden noch eine „eiserne Brechstange“, aber gemeinsam mit Konrad Plath hat er den Deutschen Verein für Kunstwissenschaft zu Berlin von einem Pfalzenforschungsprogramm überzeugen können, das man zweigeteilt mit der Erforschung der karolingischen Pfalzen Ingelheim und Aachen und mit der Erforschung der staufischen Pfalzen Goslar und Eger aufnahm. Mit der Leitung des Grabungsprojektes in Ingelheim wurde Christian Rauch beauftragt.
Christian Rauch steht nicht nur für den Beginn der Spatenforschung in Ingelheim, sondern auch für den Start der systematischen Pfalzenforschung in Deutschland. „Die Ausgrabungen von Christian Rauch 1909-1914 haben eine Vorstellung von der Ausdehnung und dem Aussehen der karolingischen Residenz Ingelheim vermittelt“, schreibt Hans Jörg Jakobi in seinem 1976 erschienen Werk „Ausgrabungen in der Königspfalz Ingelheim 1909-1914“. Für ihn ist das von Christian Rauch gewonnene wissenschaftliche Material nicht nur für die Baugeschichte der Stadt Ingelheim, sondern darüber hinaus für die Erforschung der frühmittelalterlichen Königspfalzen von entscheidender Bedeutung. Tatsächlich prägte das Modell, das nach einer Rekonstruktion der Pfalz in Form eines ergänzenden Grundrisses und einer perspektivischen Darstellung entstand, die Christian Rauch in seiner Abhandlung „Die Pfalz Karls des Großen zu Ingelheim am Rhein“ 1930 veröffentlichte, über Jahrzehnte die allgemeine Vorstellung einer karolingischen Pfalz.

Holger Grewe MA, Leiter der Forschungsstelle Kaiserpfalz Ingelheim und seit 1993 mit der archäologischen Erforschung der Ingelheimer Pfalz beauftragt, ist dankbar, dass Christian Rauch so großen Wert darauf legte, die Grundmauern zu verorten und lagerichtig darzustellen. Zwar musste das Forschungsteam viele der Altgrabungen neu bewerten, aber es profitiert noch heute in großem Maße von Christian Rauchs zahlreichen Gesamtgrundrissen.
Nach den Rauchschen Grabungen folgte eine zweite Grabungsperiode in den 1960igern. Im Zuge einer Erweiterung der Saalkirche wurden von den Archäologen Walter Sage, Hermann Ament und Uta Wengenroth-Weimann die Grabungen im Kaiserpfalzgelände wieder aufgenommen. Im Zeitraum von zehn Jahren führte das Archäologenteam im gesamten Pfalzgebiet Punkt- und Flächengrabungen durch. Die neuen Erkenntnisse machten Korrekturen am Rauch-Modell erforderlich, zudem konnte die Saalkirche als nachkarolingisch neu datiert werden.
Unter der wissenschaftlichen Begleitung von Prof. Dr. Walter Sage nahm am 28. Juni 1993 der Mittelalter-Archäologe Hol­ger Grewe M.A. die Arbeiten im Kaiserpfalzareal erneut auf. Nach einem gezielten Grunderwerb der Stadt Ingelheim konnte Grewe mit seinem Team in den Jahren 1994-1998 den Bereich Aula regia und 2000-2003 das Areal „Heidesheimer Tor“ archäologisch untersuchen. 2004 standen die Sakralbauten der Kaiserpfalz im Mittelpunkt der Grabungen. Grewe konnte nördlich der Saalkirche zwei Kirchen bestimmen, die der Saalkirche vorangingen.
In Zusammenarbeit mit der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz (ehem. Landesamt für Denkmalpflege) gelang es Holger Grewe, die Ausgrabungen in bislang nicht untersuchten oder unzureichend dokumentierten Flächen voranzutreiben und die Altgrabungen systematisch auszuwerten. Eine Gesamtpublikation, in der die Ergebnisse der Ingelheimer Pfalzenforschung seit 1909 veröffentlich werden sollen, ist derzeit in Arbeit. Zudem hat Grewe im Zusammenwirken mit der Stadt Ingelheim und der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz sein „Konzept zur Untersuchung, Erhaltung und touristischen Erschließung der Kaiserpfalz“ umsetzen können. Nach der Einrichtung eines Besucherzentrums wurden die archäologisch untersuchten Flächen Aula regia, Saalkirche und Heidesheimer Tor und Nordflügel unter Berücksichtigung ihrer räumlich-thematischen Schwerpunkte baulich erschlossen und denkmalgerecht neugestaltet.
„Bisher sind nur zwei Pfalzen –Ingelheim und Paderborn – archäologisch untersucht worden“, resümiert Holger Grewe. Obwohl es weit mehr als 100 Pfalzen gebe, stecke die Pfalzenforschung noch in den Anfängen. In Frankreich, in der Schweiz und in Italien beginne man gerade erst damit.