Ingelheimer Markthalle – architektonisches Kleinod

April 2014

In der Kalendergeschichte vor genau einem Jahr berichtete ich über den Obstanbau in Rheinhessen, heute widme ich den Kalenderbeitrag der Alten Markthalle in Ingelheim.
Die Alte Markthalle: Man muss schon genau hinsehen, um das Kleinod der Binger Straße zu entdecken. Eingerahmt von geradlinigen Häuserfassaden steht dort ein Gebäude, das man sicher als eine architektonische Meisterleistung des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnen kann. Ovale Fenster und halbrunde Dachkonstruktionen bestimmen das Aussehen der rund 650 Quadratmeter großen Markthalle. Einfache Ornamente schmückte ihre schlichte, aber edel wirkende Fassade. Der große, offene Innenraum hingegen zeigt sich funktional. Wuchtige Säulen tragen die halbrunde Dachkonstruktion. „Die Markthallen zeichnen sich durch Zweckmäßigkeit und Einfachheit aus“, schreibt der Rheinhessische Beobachter am 23. Juli 1912 und drückt damit die architektonischen Gedanken jener Zeit aus. Einer Zeit, in der sich die Architektur aus überkommenen Zwängen und Konventionen befreite, die geprägt war vom technischen Aufbruch und dem Bestreben, funktionale Gebäude ästhetisch ansprechend zu gestalten.

Obst-und Gemüseanbau – eine neue Erwerbsquelle
Mit dem Bau der Ludwigsbahn von Mainz nach Bingen im Jahre 1859 und der Integration der Bahnstecke in das preußische Eisenbahnnetz eröffneten sich neue Transport- und Absatzmöglichkeiten für Obst und Gemüse. Die Nachfrage – insbesondere nach Ingelheimer Spargel und Kirschen – stieg sprunghaft an und die Ingelheimer Landwirte reagierten darauf: Statt Getreide und Kartoffeln bauten sie nun vorwiegend Obst und Gemüse an. So fanden sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts 30% aller Obstbäume des Kreises Bingen in der Ingelheimer Gemarkung.

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Die Ingelheimer Markthalle um 1909. [Foto: Stadtarchiv Ingelheim]

Die Idee: Ein ständiger Obstmarkt
Im Jahre 1901 gründete sich der Obst- und Gartenbauverein Ingelheim. Er erwies sich von Beginn an als leistungsfähiger Partner der Ingelheimer Landwirte. Im April 1907 stellte er auf einer Bürgerversammlung seine Idee zu einem ständigen Obstmarkt für Ober-Ingelheim und Nieder-Ingelheim vor. Dabei orientierten sich der Verein an den schon bestehenden Obstmärkten in Freinsheim und Brühl. Die Idee stieß auf offenen Ohren! Mit Bürgermeister Saalwächter und dem Nieder-Ingelheimer Gemeinderat fand der Verein tatkräftige Mitstreiter. Die Mittel zur Errichtung einer „Obst- und Spargel-Markthalle“, rund 14000 Mark, wurden bewilligt und ein geeigneter Standort war bald gefunden! In der Binger Straße, ein Stück unterhalb der Einmündung zur Grundstraße, sollte die Markthalle entstehen. Der Bau schritt zügig voran und schon am 25. Juli 1909 konnte die Ingelheimer Markthalle eingeweiht werden. Aus den Händen des Regierungsbauführers Engel-Darmstadt nahm der Vereinsvorsitzende, Postverwalter Andres, den Schlüssel zur Markthalle in Empfang. Bürgermeister Saalwächter würdigte das Projekt, das als gemeinsame Annahmestelle für Obst und Gemüse die beiden Gemeinden Ober-Ingelheim und Nieder-Ingelheim vereine. Neben Darbietungen der Feuerwehrkapelle sowie der Gesangvereine „Einigkeit“ und „Freiheit“ sorgten zahlreichen Festreden für eine würdige Feier, auf der bis spät in die Nacht mit einem Schoppen Winzerwein angestoßen wurde.

Die Alte Markthalle in der Binger Straße, Ingelheim. [Foto: Pia Steinbauer]
Auch heute wird die Alte Markthalle in der Binger Straße noch für viele Events genutzt. [Foto: Pia Steinbauer]
Erweiterung der Markthalle
Die neue Annahmestelle für Obst und Gemüse wurde von der Bevölkerung gut angenommen! Mit ihren Leiter- und Pritschenwagen brachten die Ingelheimer Landwirte und Nebenerwerbsbauern ihre täglichen Ernteerträge zur Markthalle. In den Sommermonaten bildeten sich allabendlich lange Schlangen vor dem Gebäude, denn die Anlieferung von Obst war enorm. Inzwischen zählte der Obstbau zählt zu den Haupterwerbsquellen der Ingelheimer Gemeinden. Allein im Jahre 1912 wurden im Ingelheimer Bahnhof 828890 Kilogramm Obst und Gemüse verladen.
Schon bald stellten die Mitglieder des Obst- und Gartenbauvereins Ingelheim fest, dass die 350 Quadratmeter große Markthalle für die riesigen Mengen Obst zu knapp bemessen war. Glücklicherweise ergab sich die Gelegenheit, das links angrenzende Anwesen anzukaufen – und schon drei Jahre später konnte der erfreulichen Entwicklung des Marktes Rechnung getragen und die Markthalle erweitert werden. Mit einer großen Festveranstaltung wurde die vergrößerte Markthalle am 20. und 21. Juli 1912 eingeweiht.

Neue Markthalle am Bahnhof
In einer Versammlung beschloss der Verband der Obst- und Gartenbauvereine des Kreises Bingen am 6. Juli 1927 den Zusammenschluss der Obst- und Gemüsemärkte von Ingelheim, Gau-Algesheim und Heidesheim zur Obst- und Gemüseverwertungsgesellschaft Ingelheim und Umgebung – im Interesse einer guten Weiterentwicklung der Obstverwertung der ganzen Gegend. Im Zuge dieser Vereinigung wurde eine neue, gemeinsame Markthalle am Ingelheimer Bahnhof gebaut, die mit einer großen Gratulationscour am 8. Juli 1929 eingeweiht wurde. Die nun „Alte Markthalle“ in der Binger Straße diente noch viele Jahre als eine von vier Ingelheimer Obstanlieferungsstellen. Heute wird sie für Veranstaltungen größeren Umfangs wie Weihnachts- und Ostermärkte oder für Ausstellungen genutzt.